Märchen
- Pelin Karamustafaoglu
- Mar 31
- 1 min read

Das Wesen der Wahrheit
Es war einmal ein Handwerksmeister mit einer guten Arbeit, einer liebenden Frau und vier schönen Töchtern – kurzum, er war eigentlich ein glücklicher Mann. Aber der Mann fühlte sich rastlos und unzufrieden. Seine Frau fragte ihn, was denn los sei. „Ich suche die Wahrheit“, bekannte er.
„Dann geh“, sagte sie. Da sie eine kluge Frau war, fügte sie hinzu:
„Überantworte alles mir“.
Und er begab sich auf die Suche nach der Wahrheit. Bergauf, bergab, an den Küsten, tief in den geheimnisvollsten Wäldern. Er suchte Tage, Wochen und Monate, bis er am liebsten aufgegeben hätte. Doch an einem kalten Tag auf dem Gipfel eines Berges entdeckte er eine Höhle, in der eine weise alte Frau lebte. Sie war so alt, dass ihre Haut die Farbe von Leder hatte, ihr Haar war verfilzt und fettig, ihre Hände knotig und arthritisch. Im Mund hatte sie nur noch einen einzigen Zahn. Doch sie bat ihn mit so klaren, lyrischen Worten zu sich, dass er erkannte, endlich die Wahrheit gefunden zu haben. Er blieb ein ganzes Jahr bei ihr und lernte alles, was sie ihm in dieser Zeit beibringen konnte. Dann kam der Tag, an dem er in die Aussenwelt und zu seiner liebevollen Familie zurückkehren musste.
Am Eingang zur Höhle wandte er sich um, um Lebewohl zu sagen. „Wahrheit“, sagte er. „Du warst dieses ganze Jahr so gütig zu mir. Hast du vielleicht eine Bitte an mich?“
Sie überlegte einen Augenblick und hob dann ihren uralten Zeigefinger. „Ja“, erwiderte sie. „Wenn du zu den Menschen da draussen sprichst, berichte ihnen, ich sei jung und schön.“
Ein Volksmärchen
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